„Freilich dreht das Rad sich immer weiter“:
Zur Geschichte des Klavierbaus im 20. und 21. Jahrhundert

Teil 1: 1945–1980

Schon der Erste Weltkrieg hatte den Klavierbauern in Deutschland und weltweit arge Schäden und Verluste eingebracht. Es folgte eine Phase des Wiederaufbaus, doch so richtig erholen sollte sich der Markt in den deutschsprachigen Ländern nicht. In den Stuben, in denen zuvor gemeinsam musiziert worden war, ertönte nun immer häufiger Musik aus dem Radio. Und die weltweite Wirtschaftskrise führte dazu, dass sich immer weniger Haushalte ein Klavier leisten konnten.

Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg

Ohnehin war die Waffenpause zwischen den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts nur kurz, zu kurz. Statt Flügel und Pianos herstellen zu können, wurden auch Klavierbauer bald wieder verpflichtet, sich an der „Produktion für kriegswichtige Zwecke“ zu beteiligen. Spätestens gegen Ende des Zweiten Weltkrieges stand dann vielerorts kein Stein mehr auf dem anderen. Und die Klavierbau-Branche musste sich – wie so viele andere – neu aufbauen und strukturieren.

War die Sonderstellung der deutschen und österreichischen Klavierbauer schon in den Vorkriegsjahren durch Konkurrenz aus dem Ausland ins Wanken geraten, sahen sich die Klavierbauer 1945 vor die Mammutaufgabe gestellt, aus Schutt und Asche neue Fertigungshallen zu errichten. Lediglich Steinway & Sons gelang es bereits 1948 die Produktion in Hamburg wieder aufzunehmen und die berühmten Flügel weltweit auszuliefern. Für die meisten anderen Klavierbauer begann ein mühseliger Wiederaufbau, der sich erst ab Mitte der 1950er Jahre, als das „Wirtschaftswunder“ in Deutschland seinen Höhepunkt erreichte, auszahlte.

Während sich die Branche insgesamt in Deutschland also nur langsam erholte, entwickelte sich Japan bereits zu einem bedeutenden Konkurrenten deutscher wie amerikanischer Piano-Hersteller. In den Jahren 1953 bis 1969 wurde die dortige Klavierproduktion von 10.000 Instrumenten jährlich auf 257.000 Instrumente gesteigert.(1)

Begleitet war der Neuanfang in Westdeutschland von der Gründung des Fachverbands Deutsche Klavierindustrie, heute bekannt als Bundesverband Klavier e.V. Im Verband sind deutsche Klavierhersteller sowie Zulieferer und Partnerunternehmen zusammengeschlossen. Zu den Aufgaben des Verbandes gehört einerseits die Vertretung der Klavierhersteller in der Öffentlichkeit, andererseits beteiligt sich der Fachverband an der Förderung des musikalischen Nachwuchses und verleiht alle zwei Jahre die Auszeichnung „Klavierspieler des Jahres“ an Personen, „die sich um das Klavierspielen verdient machen“. Auch wir von Piano Express sind selbstverständlich Partner und Mitglied.

Wiederaufbau und Neugründungen in den 1950er Jahren

Von den vielen Klavierbauern, die vor den Weltkriegen in Deutschland erfolgreich tätig waren, sind in der Nachkriegszeit nur noch wenige in der Lage, direkt an die alte Tradition anzuknüpfen.

Zu den bekanntesten Unternehmen gehört der Klavier- und Flügelbauer Schimmel, der 1952 die Öffentlichkeit durch die Herstellung eines Glasflügels begeisterte. Wichtiger für den Aufstieg des Unternehmens war aber wohl, dass es schon zwei Jahrzehnte zuvor ein „Kleinklavier“ entwickelt hatte. In den 1950er Jahren, als der Wohnraum knapp, die Wohnverhältnisse beengt waren, reichte der Platz nicht für ein wuchtiges Piano oder für einen Flügel. Es lässt sich annehmen, dass Schimmel daher wegen seiner ausgezeichneten Qualität und wegen der platzsparenden Größe des Instruments besonders gute Verkaufszahlen schreiben konnte.

Deutlich kleiner und mit geringeren Investitionen ging das Unternehmen Heuss seinen Neubeginn an, dessen Produktion von Orgelspieltischen in einem 5 m2 großen Kellerraum begann. Erst 1965 errichtete Heuss dann die ersten Fabrikhallen, in denen noch heute Orgelteile und Piano-Klaviaturen hergestellt werden.

1954 konnte schließlich auch das Traditionsunternehmen Seiler seine Fabrikation von Pianos und Flügeln wieder aufnehmen, zunächst in Dänemark, ab 1961 dann in Kitzingen/Franken. Seiler erweiterte nach und nach das Sortiment und meldete wichtige Patente an, beispielsweise für die Super-Magnet-Repetitionstechnik (SMR). 2008 ging das Unternehmen dennoch in den Besitz des südkoreanischen Herstellers Samick Musical Instruments Ltd. über. Ein Teil der Produktion wurde nach Asien verlagert, doch blieb auch der Standort Kitzingen erhalten, wo Seiler noch heute eigene Klaviere und Flügel baut und den Vertrieb für Samick in Deutschland leitet.

Aufschwung in den 1960er und 1970er Jahren

Nicht nur die Konkurrenz aus Asien war groß, auch in den europäischen Nachbarländern und in den USA nahmen Klavierbauer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam wieder an Fahrt auf. So beispielsweise die Baldwin Piano Company, die ihre Produktion bald nach Kriegsende um ein Vielfaches steigern konnte. Das Unternehmen Baldwin griff zudem schon früh eine Entwicklung auf, die für die kommenden Jahrzehnte entscheidend für das Fortbestehen vieler Klaviermanufakturen werden sollte: Es stellte bereits 1945 eine erste elektronische Orgel her.

1963 übernahm Baldwin 74 % der Anteile des deutschen Klavierbauunternehmens Bechstein, zwei Jahre später eröffnete Baldwin eine weitere Produktionshalle in Arkansas. 1973 war das Unternehmen auf dem Höhepunkt und konnte auf eine Million verkaufter Stehklaviere zurückblicken. Zur gleichen Zeit ging die Bechstein GmbH ganz in den Besitz von Baldwin über. Doch ist es auch Baldwin – wie wir in Teil 2 sehen werden – nicht gelungen, den Erfolg im 21. Jahrhundert fortzusetzen.

In den 1960er Jahren jedoch gehörten Schimmel und Baldwin zu den ganz großen Klavierbauern in Deutschland und den USA. Daneben gelang es weiteren Unternehmen, sich neu zu etablieren. Dem Traditionsunternehmen Steingraeber & Söhne beispielsweise, das zu Beginn der 1960er Jahre eine neue Manufaktur einrichtete, in der Konzertflügel hergestellt wurden. (2) Nicht die Massenproduktion, sondern die erstklassige Qualität ist es, die den Erfolg und den ausgezeichneten Ruf dieser und anderer Klavierbauer begründete und noch heute begründet.

Für einen Großteil der Klavier- und Instrumentenbauer aber gilt, dass auch sie sich der neuen Zeit, mit ihren rasanten Neuerungen und Umstürzen anpassen mussten. Kriege und Revolten, der Kampf gegen Autoritäten und starre Institutionen brachten die Jugend auf den Plan, Musik erhielt vielfach einen neuen Stellenwert als Ausdruck von Protest und von Sehnsucht nach einer neuen Welt des Friedens und der Gemeinschaft der Völker. Statt daheim mit der Familie zu musizieren, gründete man lieber eine Band. Die Instrumente mussten entsprechend leicht zu transportieren, günstig und für die Bühne geeignet sein. So wurde das Klavier schließlich selbst Teil einer technologischen Revolution: E-Pianos, Heimorgeln und Synthesizer galten als neue Verkaufsschlager.

Im Osten was Neues: VEB Deutsche Piano-Union

In der ehemaligen DDR (Deutsche Demokratische Republik) sah es nach dem Krieg zunächst wenig rosig für die Klavierhersteller aus. Stärker als im Westen waren die einstigen Familienunternehmen hier durch Kriegsschäden, Demontage und Enteignungen bedroht. Dennoch ging es auch in der sozialistischen Republik voran, nämlich mit der Gründung des volkseigenen Betriebes (VEB) Deutsche Piano-Union in Böhlitz 1967. Zur Union, die im Laufe der Jahre 13 Betriebe umfassen sollte, gehörten im Gründungsjahr der

  • VEB Leipziger Pianofortefabrik,
  • VEB Sächsische Pianofortefabrik Seifhennersdorf,
  • VEB Pianomechanik Zeitz und der
  • VEB Klaviaturenfabrik Gera.

Produziert wurde vor allem für den Export, nur ein geringer Teil der Pianos konnte in der DDR selbst erstanden werden. (3)

Auch Julius Blüthner, einer der bekanntesten deutschen Pianohersteller, wurde 1972 enteignet und der Piano-Union eingegliedert. Da das Unternehmen auf den Export hochwertiger Klaviere und Flügel spezialisiert war, konnte man dort jedoch den Markennamen und den Wert der Marke erhalten und relativ eigenständig schalten und walten. Nach der Wiedervereinigung kam es zu Auf- und Verkäufen, Entschädigungen und Neustrukturierungen der Branche. Das Unternehmen Blüthner führte die Produktion unter dem Namen Julius Blüthner Pianofortefabrik GmbH weiter (4) und ging später eine Kooperation mit der Carl Rönisch Pianofortemanufaktur GmbH ein, die ebenfalls auf eine 150 Jahre währende, bewegte wie bewegende Firmenhistorie zurückblicken kann.

Zum Beispiel Steinway: die Krise in den 1970er Jahren

„Freilich dreht das Rad sich immer weiter, dass, was oben ist, nicht oben bleibt“, hatte Bertolt Brecht einst in der Ballade vom Wasserrad formuliert. Was Brecht mit Blick auf Wirtschaft und Politik zuspitzte, mussten auch die Klavierbauer in der BRD mit Beginn der 1970er Jahre erfahren, als die große Nachfrage nach Konsumgütern nachließ und die Arbeitslosigkeit dafür anstieg. Die Entwicklung wurde Motor des Bestrebens, stärker in den Export einzusteigen. Sie zeigte zugleich, dass sich manch ein Unternehmen zu wenig Gedanken darüber gemacht hatte, was auf die Jahre des wirtschaftlichen Booms folgen würde.

Eines dieser Unternehmen ist der amerikanische Flügelbauer Steinway & Sons, der wie oben erwähnt, im Deutschland der Nachkriegsjahre zu den Pionieren der sich neu gründenden Branche gehört hatte. Steinway verkaufte in den 1960er Jahren jährlich mehr als 1000 Flügel. Die Geschäfte liefen also gut – man vernachlässigte es aber, sowohl am Standort Deutschland  als auch in den USA in Neuerungen zu investieren. So wurde das traditionsreiche Unternehmen trotz seines ausgezeichneten Rufes schließlich 1972 vom Medienunternehmen Columbia Broadcasting System (CBS) aufgekauft.

Export als kurzfristige Lösung

In Westdeutschland glaubte man – wie fast überall in den Industrieländern – der schwankenden Nachfrage durch einen verstärkten Export zu entgehen. Damit begann, was wir heute als Globalisierung bezeichnen – die weltweite Öffnung von Märkten. Auch die westdeutschen Klavierbauer wurden nun zu Exportweltmeistern –  die ostdeutschen hatten es ja bereits vorgemacht. Zwar nahm die Nachfrage nach Pianos auch in bundesdeutschen Haushalten nach kurzen Einbrüchen wieder zu, sodass sich die Klavierbaubranche 1974 hervorragend positioniert sah. Doch gingen von den 25.000 Instrumenten, die im vorangehenden Jahr hergestellt worden waren, bereits die Hälfte ins Ausland. Und: Gemessen an den 100 Millionen Mark Jahresumsatz, den die Yamaha Europa GmbH mit Sitz bei Hamburg zu dieser Zeit durch den Verkauf von Klavieren und Flügeln in Deutschland erzielte, waren die 30 Millionen, die der deutsche Marktführer Schimmel einnahm, dann doch eher gering. (5)

Gingen anfangs deutsche Piano-Unternehmen vermehrt nach Asien, um sich die dortigen Märkte zu erschließen, kehrte sich dies bald um: Hersteller in China, Korea und Japan begannen, die deutschen Klaviere zumindest im niedrigpreisigen Segment vom Markt zu verdrängen. 40–45 % der Klaviere wurden in den späten 1970er Jahren bereits aus Japan nach Deutschland geliefert.

Wie diese Entwicklung im Einzelnen vor sich ging, welche Rolle die Digitalisierung für die Veränderung der Klavierbranche heute spielt und welchen Stellenwert deutsche Klavierbauer heute in der Welt genießen, lesen Sie in Teil 2 dieser Reihe.

Lesen Sie auch den zweiten Artikel zur Geschichte des Klavierbaus im 20. und 21. Jahrhundert: Teil 2 1980-2017

QUELLEN

  1. Petersen, Sonja: Vom „Schwachstarktastenkasten“ und seinen Fabrikanten. Wissensräume im Klavierbau 1830 bis 1930. Verlag Waxmann 2011.
  2. https://www.pianos.de/de/das_instrument/index.php?id=27
  3. http://www.leipziger-industriekultur.de/ludwig-hupfeld/
  4. http://www.pianonews.de/index.php/ausgaben/2003/59-pianonews-02-2003
  5. http://www.zeit.de/1974/16/voller-griff-in-die-tasten