Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 2

Das Unmögliche wollen und erreichen – jenseits der Sensation

Einmal Superstar sein. Berühmt werden, im Mittelpunkt stehen, viel Geld verdienen. Seit Beginn der großen Castingshows setzt sich dieser Traum mehr und mehr in den Köpfen und Herzen von Menschen jeden Alters fest – auch in solchen, die noch niemals im Leben ein Instrument gespielt oder singend auf einer Bühne gestanden haben. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man um jeden Ton kämpfen, sein Spiel immer weiter verfeinern, jahrelang als unbekannter Musiker durch die Gegend tingeln und sich nebenher noch als Kellner oder Taxifahrer verdingen muss, um den Traum, nicht einfach berühmt, sondern als anerkannter Musiker berühmt zu werden, zu bewahrheiten.

Denn es ist allzu häufig nicht das Talent, das in Shows wie Deutschland sucht den Superstar, The Voice of Germany oder Britain‘s Got Talent, zum Sieger gekürt wird. Es ist die sensationstaugliche Story, die den Gewinner auszeichnet. Und so hat mittlerweile fast jeder, der es in die entscheidenden Endrunden schafft, eine rührende Geschichte zu erzählen, die ihm oder ihr Sympathiepunkte unter den Zuschauern einbringt.

Sterben oder brillant leben – taugt eine solche Haltung als inspirierendes Vorbild?

Eine dieser Storys wird am 08.08.2010 öffentlich, als ein schmaler junger Mann in lockerem Freizeitdress die Bühne von China’s Got Talent betritt, der chinesischen Variante der bekannten Castingshow. Sein Name ist Liu Wei, er ist 23 Jahre alt und er hat ein nettes Lächeln. 

Niemand kennt den etwas schüchtern und zerbrechlich wirkenden Mann, aber schon bevor er am Klavier Platz nimmt, um Paul de Sennevilles Mariage D'amour zu intonieren, bricht das Publikum in begeisterten Applaus aus. Der gilt zunächst einmal nicht seinem Spiel, sondern einem außergewöhnlichen Umstand. Denn Liu Wei fehlen seit seinem zehnten Lebensjahr beide Arme. Er spielt Klavier mit den Füßen. 

Gegen den Rat seines ersten Klavierlehrers, der sein Vorhaben, Pianist zu werden, für ein Ding der Unmöglichkeit hielt, warf er seinen Ehrgeiz, seine Disziplin, sein Lebensmotto in die Waagschale: „Entweder du stirbst so rasch wie möglich. Oder du lebst ein brillantes Leben. Ich habe mich für das Letztere entschieden.“

Zwei Monate später ist auch die Entscheidung der Jury gefallen. Liu hat das Publikum überzeugt und gewinnt das Finale mit einer Interpretation von James Blunts „You’re beautiful“. Wieder ist es ein besonderes Datum, nämlich der 10.10.2010, an dem der junge Mann, der erst mit 19 Jahren das Klavierspielen begonnen hatte, für einen kurzen Moment Musikgeschichte schreibt. Er gilt jetzt als Vorbild und sein Lebensmotto wird viel zitiert. Die Frage ist nur: Was ist mit all den anderen, die mit einem Handicap leben, es aber niemals aufs Siegertreppchen schaffen werden? Was ist mit denen, die es nicht erreichen, „brillant“ zu leben. Taugt Lius Motto auch für sie?

„Bescheidenheit ist eine Zier – doch besser kommt man ohne ihr?“

Sechs Jahre später spricht kaum noch jemand über Liu Wei, denn auch das gehört zum Konzept der Castingshows. Man braucht frisches Blut, neue Stimmen und Gesichter, Jahr für Jahr, Show für Show, landauf und landab. Jetzt, im März 2016, macht sich ein anderer junger Klavierspieler aufgrund seiner körperlichen Besonderheit einen Namen: Der sechzehnjährige Aleksey Romanov aus Kazan (Tatarstan), der auf Einladung eines TV-Senders den Erfolgshit River Flows In You des südkoreanischen Pianisten Yiruma vorspielt. Mit seinen Händen, an denen von Geburt an keine Finger ausgebildet sind.

Auch Aleksey hat erst zwei Jahre zuvor mit dem Klavierspiel begonnen. Zur selben Zeit als er von seinen neuen Zieheltern adoptiert wurde. Inspiriert fühlt er sich von Komponisten wie Mozart und Vivaldi. Da er deren Stücke aber niemals wird spielen können, wählte er das für ihn Erreichbare wie eben Yirumas Song, bekannte Melodien oder Filmmusiken.

Seine Fans danken es ihm und lassen ihn in Kommentaren auf den Social Media wissen, wie sehr sie ihn schätzen und verehren. Dass er ein Held sei, der allen Respekt verdiene, heißt es da beispielsweise. Und ein Kommentator äußert selbstkritisch: „Wir alle jammern ständig über das Leben. Man kann solche Leute nur bewundern. Der Junge ist fantastisch.“

Recht hat er. Und das gilt sicher auch für alle anderen, die sich wie Liu Wei und Aleksey Romanov mit ihrer Leidenschaft für das Piano gegen etwas stellen, was uns gemeinhin als schlimmes Schicksal erscheint. Sie haben gekämpft und erhalten für einen kurzen Moment genau die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihnen tagtäglich zustehen sollte.

Das Schicksal bejahen und dennoch die Skepsis bewahren
Wer sich mit ihnen befasst, stößt bald auf weitere Namen und Shows. Auf den brasilianischen Johnatha Bastos, der Gitarre mit den Füßen und Klavier mit zwei verstümmelten Armen spielt. Auf das chinesische Mädchen, das an der rechten Hand keine Finger hat, aber einen sagenhaften Auftritt in der Show Supertalent hinlegt. Oder auf Lorelai Moşneguţu, eine faszinierende Sängerin, die sich ebenfalls unter Zuhilfenahme ihrer Füße am Piano begleitet und die ihr Können bei Romania's Got Talent unter Beweis stellte. Jonahtha bei YouTube:

 
Lorelai bei YouTube:

 
Als Zuschauer kann man sich in der Tat nur ein Beispiel an diesen jungen Menschen nehmen und sich mit ihnen freuen. Dennoch schleicht sich zuweilen wohl Skepsis oder Beklemmung aufgrund der Art der Darbietung ein. Denn jeder Künstler – das unterscheidet ihn vom nur gepushten Superstar – arbeitet unablässig an seiner Technik, seiner Darbietung, seiner Interpretation. Was am Ende zählt, ist sein Spiel, nicht seine Story. Von Romanov aber, der dem Guardian zufolge bis hin zur Schüchternheit bescheiden wirkt, heißt es, dass seine Story (engl.) als „Inspiration für junge Künstler und ein breiteres Publikum“ dienen könne. Ob das der Erfolg ist, nach dem er und andere Musiker mit Handicap tatsächlich streben?

Jenseits der Sensation: Berühmte Künstler, die uns ihr Handicap vergessen lassen

„Die Welt ist alles, was der Fall ist“, erklärte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kurz und lapidar der Philosoph Ludwig Wittenstein in seinem Hauptwerk Logisch-philosophische Abhandlung. Und fügte hinzu: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Ob er dabei auch das Schicksal seines Bruders, des Pianisten Paul Wittgenstein vor Augen hatte? Der nämlich brachte etwas ganz Besonderes in die Welt: Klavierwerke, die für Einarmige komponiert worden waren. Konkreter: die für ihn komponiert worden waren, der als Soldat im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte. 

Paul Wittgenstein ließ sich von seiner Verletzung nicht aufhalten, seinen Weg als außergewöhnlich talentierter Pianist fortzusetzen. Und da er aus einer wohlhabenden Familie stammte und – wie wir heute sagen würden – stark vernetzt war in der künstlerischen Szene seiner Zeit, war es ihm möglich, bei bedeutenden Komponisten Werke in Auftrag zu geben, die er mit nur einer Hand spielen konnte. 

Doch dabei beließ er es nicht, schließlich war sein Talent ausgeprägt genug, um auch selbst Werke der alten Meister zu überarbeiten und neu zu arrangieren. Zusätzliches Material boten ihm die von Franz Liszt einst für den einarmigen, ungarischen Pianisten Géza Graf Zichy zu Vásonykeö komponierten Musikstücke. So hinterließ Wittgenstein selbst ein umfassendes Erbe – zum Nutzen weiterer Pianisten, die die von ihm beauftragten, gesammelten oder arrangierten Stücke noch heute zu Gehör bringen. Unabhängig davon, ob sie über zwei gesunde Hände verfügen oder wie Wittgenstein mit einer Hand spielen müssen.

Der Wunsch ist Vater des Erfolgs: nicht Sklave, sondern freier Künstler sein

Dass Wittgenstein als Musiker über großen Ehrgeiz und Eigensinn verfügte, dass er sich nicht damit zufriedengab, als einarmiger Pianist nehmen zu müssen, was ihm andere Künstler oder Produzenten zugestanden, zeigt sich unter anderem in einem Streit, der 1929 zum Bruch mit Maurice Ravel führte. 

An dessen – eigens für Wittgenstein komponiertem – Klavierkonzert in D-Dur soll der Pianist so viele Änderungen vorgenommen haben, dass Ravel der Kragen platzte. Wittgenstein aber verstand sich nicht als „Sklave“ des Komponisten, sondern beharrte auf der Eigenständigkeit seiner Interpretation. Auch wenn er damit riskierte, einen bedeutenden „Zulieferer“ seiner Kunst zu verlieren.

 
Dieser klare und unbeugsame Geist des Pianisten zeigte sich auch in seiner Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus. Statt sich mit einem Teil des Famlienerbes freizukaufen von der „Schuld“ ein Jude zu sein, wie es seine Familie getan hatte, lehnte er jede Übereinkunft mit den neuen Machthabern ab. 1938 floh er dann – alle öffentliche Tätigkeit war ihm bereits untersagt – in die USA, wo er 1961 verstarb. 

Nur kurze Zeit nach seinem Tod erlitt ein weiterer Pianist, der bereits mit acht Jahren sein erstes Konzert gegeben hatte, einen schwerwiegenden Verlust. Der 1928 in den USA geborene Leon Fleisher, der bereits auf eine erfolgreiche Karriere als Musiker zurückblicken konnte, verlor aufgrund einer Erkrankung die Fähigkeit, mit der rechten Hand zu spielen. Auch Fleisher, der aktuell noch stets als Lehrer und Dirigent tätig ist, gehört daher zu jenen bewundernswerten Pianisten, denen Wittgenstein ein nutzbringendes Erbe hinterlassen hat.  

Blind, taub und einarmig: Die Musikgeschichte kennt viele Schicksale, die nicht als Sensation taugen

Wer sich in der Musikgeschichte nach Schicksalen und besonderen Leistungen umschaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Da gab es zu allen Zeiten blinde oder taube Komponisten sowie einarmige Musiker, die aufgrund ihrer Erkrankung einen ganz besonderen Stil schufen, wie beispielsweise der Gitarrist Django Reinhardt oder der Pianist Horace Parlan – um auch einmal Vertreter nicht-klassischer Genres zu benennen. 

Was sie eint, ist, dass sie nicht wegen ihrer Erkrankung „inspirierend“ wirkten, sondern wegen der Musik, die sie schufen, für die sie lebten, die sie vortrugen. Der Großteil hätte es vermutlich abgelehnt, wegen seiner Story einer „breiteren Öffentlichkeit“ bekannt und als Vorbild präsentiert zu werden. 

Ob Aleksey Romanov, Liu Wei, Jonahtha Bastos oder Lorelai Moşneguţu und die vielen anderen ungenannten Musiker, die so mutig und berührend ihr Schicksal annehmen, genau diesen Wunsch hegen – nämlich für ihre Musik Aufmerksamkeit zu erhalten und nicht für ihre Story, wissen wir nicht.

Wir wünschen ihnen aber von ganzem Herzen, dass sie die Chance erhalten, das Unmögliche weiterhin zu wollen und zu erreichen – jenseits aller Träume, ein Superstar zu werden. Und abseits einer Öffentlichkeit, für die ein Schicksal nur dann interessant ist, wenn es zur Sensation taugt. Denn ihre eigentlich großartige Leistung haben sie vollbracht, bevor irgendeine Kamera auf sie zielte. Im abgeschiedenen Kämmerlein, in dem sie – wie alle, die nicht wissen, ob ihnen der Erfolg einmal gegönnt sein wird – ihrem Traum Note um Note und Stunde um Stunde ein Stückchen näherkamen.

 
Lesen Sie auch aus unserer Serie:
Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 1
Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 3